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Aussage-gegen-Aussage beim schweigenden Angeklagten?
Stell Dir vor, Du plädierst und niemand hört hin.
Mit Sexualstrafrecht wurde ich zum ersten Mal im Referendariat konfrontiert. Natürlich gehört dieses Rechtsgebiet nicht zum Pflichtstoff. Über den §§ 174 ff. StGB waberte dicker Nebel der Unwissenheit. Weil man es den jungen Referendaren* einfach nicht zumuten will? Man weiß es nicht. Zum Glück waren sich meine damaligen Ausbilder und nunmehr geschätzten Kollegen aus der Anwalts- und Wahlstation nie zu schade dafür. So gesehen haben sie das Geheimnis unter dem Nebel gelüftet.
Es war fast so, als würde es eine unendliche Flut an Akten geben. Hat man einen Fall bearbeitet, liegen am nächsten Tag zwei neue bereit. Ernüchternd. Aber das ist ein anderes Thema. Die Beweislage war in fast jedem Fall gleich: Aussage-gegen-Aussage. Eine Person beschuldigt eine andere Person. Keine Zeugen, keine Videos, keine DNA. Wie man diese Situation juristisch sauber löst, lernt man im Studium nicht. Warum auch. Da muss man selbst ran und sich mühsam in die vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätze in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, die Aussageanalyse und in die Aussagepsychologie einlesen. Damals bin ich noch davon ausgegangen, dass sich Angehörige der Justiz mit diesen wichtigen Themen in mindestens einer Pflichtfortbildung pro Jahr beschäftigen. Und das hat mich missmutig gestimmt. Ich wollte mehr wissen als jeder Strafrichter nach einem zehnstündigen Crash-Kurs in einem lieblosen Konferenzraum in irgendeinem egalen Hotel.
So lernte ich, dass eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt, wenn keine weiteren tatbezogenen Beweismittel vorliegen außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen. Ich lernte, dass dies auch gilt, wenn der Beschuldigte schweigt (BGH, 4 StR 360/12 – Urteil v. 06.12.2012). Und vor allem lernte ich, dass in diesen Fällen eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht vorzunehmen ist, d.h. eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (st. Rspr., vgl. BGH, 1 StR 299/20 – Urteil v. 13.10.2020)
Pedantisch – und aufgrund der besonderen Anforderungen zum Teil auch ehrfürchtig – bereite ich mich in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen auf Vernehmungen vor. Verfasse Schutzschriften für meine Mandanten mit Aussageanalysen, die nie enden wollen. Vertiefe mich stundenlang in meine Plädoyers. Schrecke nachts auf, weil mir noch ein Gedanke kommt oder wegen der Angst im Nacken, ein Realkennzeichen übersehen zu haben.
Das alles, um mir dann in der Urteilsbegründung anhören zu dürfen, dass wir es gar nicht mit einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zu tun haben würden, weil meine Mandantschaft ja schweigt.
Stille im Saal. Ich frage mich, was Google sagt, wenn man „Aussage-gegen-Aussage schweigender Angeklagter“ in die Suchleiste tippt. Vielleicht haben wir es mit einer Urban Legend zu tun, die sich unkontrolliert im Netz verbreitet. Aber nein. Google zeigt 374645 übereinstimmende Suchergebnissen an. Nach einem kurzen, kaum hörbaren Lachen auf der Richterbank fährt das Gericht mit seiner Begründung fort. Fährt mit einem Zwölf-Tonner über die vom BGH entwickelten Grundsätze, über die verfassungsrechtlich geschützten Rechte meiner Mandantschaft.
Das sind genau diese Momente, in denen mich meine Smartwatch vor einem möglichen Vorhofflimmern warnt. Wie naiv ich damals doch war, wenn man sich vor Augen hält, dass wir in einigen deutschen Gerichtssälen bereits über die Definition von Aussage-gegen-Aussage streiten. Als wäre die höchstrichterliche Rechtsprechung für einige Gerichte nicht mehr als ein Klotz am Bein, den es loszuwerden gilt.
Dazu ist zu sagen, dass es viele Angehörige der Justiz gibt, die ein hervorragendes Verständnis von Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen in Sexualstrafverfahren haben und die einschlägige Rechtsprechung des BGH sicher im Schlaf herunterbeten können. Das ist erfreulich. Aber bei der Relevanz, die sich aus den steigenden Fallzahlen sowie der hohen Straferwartung ergibt, sollte ein Grundverständnis für Aussage-gegen-Aussage eigentlich auch drin sein, oder?